Armut – Begriff und Messung

Konzept der absoluten Armut

Das Konzept der absoluten Armut basiert auf der These, dass Armut dort beginnt, wo die essentiellen Mittel zum Überleben auf Dauer nicht gesichert sind. Als absolut arm gilt, wer nicht über die Ressourcen verfügt,

  • um elementare Grundbedürfnisse zu befriedigen und
  • ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Absolute Armut zielt auf eine genaue Bestimmung des Lebensnotwendigen. Im Zentrum steht das Existenzminimum. Die Grundbedürfnisse des Menschen werden anhand eines Minimalbedarfs an überlebenswichtigen Gütern bestimmt, die die Lebenserhaltung einer Person gewährleisten und materielle wie immaterielle Aspekte umfasst.

  • Materielle Armut bedeutet ein Mangel an Gütern, die zum physischen Überleben unbedingt erforderlich sind (Nahrung, Kleidung, Wohnung, sauberes Trinkwasser).
     
  • Die immaterielle Dimension bezieht sich auf Aspekte, ohne die ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist (zum Beispiel Menschenrechte, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Bildungschancen).

„Armut auf absolutem Niveau [...] ist Leben am äußersten Rand der Existenz. Die absolut Armen sind Menschen, die unter schlimmen Entbehrungen und in einem Zustand von Verwahrlosung und Entwürdigung ums Überleben kämpfen, der unsere durch intellektuelle Phantasie und privilegierte Verhältnisse geprägte Vorstellungskraft übersteigt.“ (Robert McNamara, ehemaliger Präsident der Weltbank)

Die definitive Festlegung des Existenzminimums und der Grundbedürfnisse ist jedoch schwierig, da die Menge der notwendigen Güter von Konstitution, Alter und Geschlecht der jeweiligen Person abhängt, aber auch von der jeweiligen Zeit und Gesellschaft.

  • Historischer Wandel: In Europa veränderte sich die Vorstellung des physischen Existenzminimums (und die Standards für Bekleidung, Wohnung und Freizeit) im Laufe der Jahrhunderte. Die technologische Entwicklung ermöglichte den Zugang zu qualitativ besseren Ressourcen, wodurch auch neue Grundbedürfnisse entstanden sind. So hat z. B. die Verbreitung neuer Kommunikationsmedien, wie Telefon und Fernsehen, auch neue Mindestvoraussetzungen für die Beteiligung am gesellschaftlichen Leben geschaffen.
     
  • Gesellschaftliche Unterschiede: Das für europäische Wohlfahrtsstaaten definierte Existenzminimum ist in vielen unterentwickelten Ländern durchschnittlich normaler bis gehobener Lebensstandard.

Viele Sozialforscher lehnen eine absolute Definition von Armut ab, da sie davon ausgehen, dass die Festlegung eines Existenzminimums nicht überzeitlich und überall verbindlich sein kann, sondern nur relative Gültigkeit besitzt (in einer bestimmten Zeit und Gesellschaft). Zudem bewegt sich die Bestimmung menschlicher Grundbedürfnisse im weiten Spektrum eines niedrigen bzw. hohen Minimalbedarfs, die der Begründung bedarf:

  • Auf der einen Seite steht der Mindeststandard zum physischen Überleben,
     
  • auf der anderen Seite die Vorstellung eines umfassenden Lebensstandards, der auch die Beteiligung am kulturellen Leben oder den Besitz gewisser Transport- und Kommunikationsmittel einschließt.

Die Vertreter des absoluten Armutsbegriffs argumentieren, dass die wesentlichen Grundbedürfnisse des Menschen unveränderlich sind, z. B.

  • der Nahrungsaufnahme und
  • der Fortbewegung.

Lediglich die für dieses Bedürfnis verwendeten Güter seien von Zeit und Gesellschaft abhängig und damit variabel, z. B.

  • vielfältigere Lebensmittel im Bereich der Nahrung oder
  • unterschiedliche Fortbewegungsmittel (Pferd, Auto oder Flugzeug).

Die absoluten Armutstheorien sind stark umstritten und erweisen sich in der praktischen Umsetzung als problematisch. Studien dieser Forschungsrichtung konzentrieren sich zumeist auf die Erfassung (messbarer) Einkommensarmut.

Konzept der relativen Armut

Relative Armut beschreibt soziale Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft, indem der Lebensstandard von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in einem Land verglichen wird. Als (relativ) arm gilt insofern, wer über weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Nettoeinkommens verfügt. Das Konzept der relativen Armut zielt darauf, die Benachteiligungen einer Person im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und einzelnen Bevölkerungsgruppen zu erfassen. Diese Nachteile können sich auf den durchschnittlichen Wohlstand, aber auch auf den Reichtum in einer Gesellschaft beziehen.
Auch die nationalen Armutsberichte orientieren sich am Konzept relativer (Einkommens-)Armut. Arm ist demnach, wer weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens hat (Mitglieder von Haushalten mit einem Äquivalenzeinkommen unter 50 % des arithmetischen Mittels der Gesamtbevölkerung).

In Wohlfahrtstaaten ist relative Armut nicht nur mit ökonomisch-materiellen Defiziten verbunden, sondern wird als umfassende Verarmung (Deprivation) des Lebens begriffen, die neben Einkommensarmut auch die Unterversorgung in verschiedenen Lebensbereichen mit einbezieht (Arbeits- und Wohnverhältnisse, Freizeit, Bildung, Gesundheit und Ernährung). Eine Person ist dann arm, wenn ihr soziokulturelles Existenzminimum – über das rein physische Überleben hinaus – nicht gesichert ist und mit Defiziten an kultureller und politischer Partizipation sowie mit psychosozialen Problemen (Ausgrenzungserfahrungen, Isolation) verbunden ist.
Das soziokulturelle Existenzminimum wird definiert anhand der

  • materiellen,
  • sozialen und
  • kulturellen Standards sowie der
  • Lebensgewohnheiten eines Landes.

Als arm gilt, wer vom üblichen Lebensstandard der Gesellschaft ausgeschlossen ist.

Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist Armut ein relatives Phänomen: Es geht nicht um das reine Überleben (wie in vielen Entwicklungsländern der Erde), sondern um ein menschenwürdiges Leben. Mit dem allgemein gestiegenen Wohlstandsniveau wird Armut nicht nur an den Mangel notwendiger Güter, sondern auch an den Ausschluss von den allgemein verbreiteten Lebensgewohnheiten gekoppelt. Im Unterschied zu unterentwickelten Ländern existiert hier kein Massenelend und niemand muss an Hunger sterben, da die sozialen Sicherungssysteme im Bedarfsfall das Existenzminimum gewährleisten. Zur Bekämpfung von Einkommensarmut dient in der Bundesrepublik das Mittel staatlicher Sozialhilfe. Im Bundessozialhilfegesetz ist das Existenzminimum für ein menschenwürdiges Leben in einer Wohlstandsgesellschaft definiert, wobei der Mindestbedarf etwas über der 40 %-Grenze der Durchschnittseinkommen liegt (politisch festgelegte „offizielle“ Armutsgrenze).

Der tatsächliche Anteil der Armen in der Gesellschaft ist jedoch schwer zu bestimmen, da es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wann ein Mensch in Armut lebt. Die Sozialhilfestatistiken sind nur begrenzt aussagekräftig, da nicht alle sozialhilfeberechtigten Menschen die Hilfeleistung auch in Anspruch nehmen („verdeckte Armut“).
Trotz des hohen Wohlstandsnivaus im Durchschnitt der Bevölkerung existiert auch in Deutschland eine Randschicht der Armen, die an oder unterhalb der Armutsgrenze lebt. Vom Armutsrisiko besonders bedroht sind

  • Langzeitarbeitslose,
  • Alleinerziehende,
  • kinderreiche Familien,
  • ausländische Haushalte,
  • Geringverdiener,
  • allein lebende Behinderte,
  • Rentner mit niedriger Rente sowie
  • Personen mit mangelnder oder nicht marktgängiger Qualifikation.

Da sich zudem die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet hat, gewinnt die Armutsfrage an sozial- und gesellschaftspolitischer Brisanz.

Messung von Armut

In der theoretischen Diskussion gibt es zahlreiche Definitionen von Armut. In der internationalen Entwicklungszusammenarbeit sind jedoch allgemein akzeptierte Maßstäbe notwendig, um Armut beschreiben, messen und vergleichen zu können. Nur wenn Armut klar erfasst wird (Armutsmessung), kann sie auch wirkungsvoll bekämpft werden. In der praktischen Arbeit haben sich vor allem zwei Konzepte durchgesetzt:

  • der von der Weltbank vertretene Ressourcenansatz bzw. die „1$ a day poverty line“ („Ein-Dollar-Pro-Tag-Marke“) und
     
  • der Lebenslageansatz, der von United Nations Development Programme (UNDP) vertreten wird.

Ressourcenansatz bzw. „Ein-Dollar-Pro-Tag-Marke“
Der Ressourcenansatz orientiert sich am (absoluten) monetären Einkommen: Arm ist demnach, wer eine bestimmte Einkommensgrenze unterschreitet. Abgestimmt auf die regionalen Unterschiede werden Armutslinien („poverty lines“) definiert, die Arme von Nicht-Armen bzw. Arme von Extrem-Armen trennen.
Da Hunger und der permanente Überlebenskampf schwer zu erfassen sind, hat die Weltbank die „Ein-Dollar-pro-Tag-Marke“ eingeführt, die relativ leicht messbar ist. Als absolut oder extrem arm gilt, wer weniger als einen US-Dollar pro Tag zur Verfügung hat (in lokaler Kaufkraftparität). Diesem Konzept liegt die Auffassung zugrunde, dass mindestens ein Einkommen von einem Dollar pro Tag und Kopf notwendig ist, um die wichtigsten Grundbedürfnisse zu befriedigen. Nach dieser Berechnung (Weltbank 2004) sind heute über eine Milliarde Menschen arm – also mehr als jeder siebte Mensch auf der Welt ist nicht in der Lage,

  • einen minimalen Lebensstandard zu erreichen,
  • kann sich keine angemessene Mindesternährung leisten und
  • kämpft täglich ums Überleben.

Auf den Ressourcen-Ansatz bezieht sich auch das Ziel der internationalen Gemeinschaft, die absolute Armut weltweit bis 2015 zu halbieren.

Der Vorteil des Ressourcenansatzes besteht darin, dass monetäres Einkommen eine eindeutige Größe darstellt, leicht mess- und anwendbar ist und internationale Vergleiche ermöglicht. Gleichzeitig bleibt aber der Blick auf andere wichtige Armutsfaktoren verschlossen (z. B. Bildungsstand, gesellschaftliche Teilhabe). Aus diesem Grund ergänzt die Weltbank die Analysen zur Einkommensarmut durch Umfragen, in denen die Sicht der von Armut Betroffenen erhoben wird (partizipative Armutsmessung).
In einer umfassenden Studie der Weltbank ist dokumentiert, wie Arme ihre eigene Situation wahrnehmen: „Voices of the Poor – Can Anyone Hear Us?“ Grundlage ist eine Befragung von rund 60 000 Armen aus der ganzen Welt. Dabei zeigte sich, dass die von Armut betroffenen Menschen ihre defizitäre Lebenssituation sehr vielschichtig erleben:

  • Neben Einkommensarmut umfasst sie auch
  • Unsicherheit (kein Schutz vor den Risiken des Lebens),
  • Aussichtslosigkeit (und Resignation),
  • Machtlosigkeit (Korruption und Gewalt als lebensbestimmende Erfahrung ohne Einflussmöglichkeiten) und
  • Ausgrenzung (z. B. keine Mitbestimmung und politische Interessenvertretung).

Die Befragten haben selbst definiert, was sie benötigen, um ihr Leben selbst zu gestalten und ein Leben in Würde zu führen:

  • ausreichend Nahrung,
  • Geld,
  • Gesundheit,
  • ein Dach über dem Kopf,
  • Mitwirkung am gesellschaftlichen und politischen Leben,
  • Rechtssicherheit,
  • Bildungschancen,
  • Arbeit,
  • ein faires Einkommen.

Lebenslageansatz und HDI (Human Development Index)
Der so genannte Lebenslageansatz von United Nations Development Programme (UNDP) grenzt sich deutlich vom Konzept der Einkommensarmut ab, indem der Armutsbegriff wesentlich weiter gefasst wird. Armut ist demnach

„das Vorenthalten von Chancen und Wahlmöglichkeiten, die wesentlich für die menschliche Entwicklung sind: für ein langes, gesundes, kreatives Leben, einen angemessenen Lebensstandard, für Freiheit, Würde, Selbstachtung und Achtung durch andere“.

Im Zentrum steht dabei die Frage, ob die verfügbaren Ressourcen ausreichen, um das eigene Leben individuell und menschenwürdig zu gestalten. Faktoren wie Bildungschancen, gesellschaftliche Teilhabe an Entscheidungen, Selbstbestimmung oder Rechtssicherheit werden deshalb auch mit einbezogen.
Auf der Grundlage des Lebenslageansatzes errechnet UNDP den Human Development Index (HDI), der auf einer Skala zwischen 0 und 10 den Entwicklungsstand eines Landes beschreibt und verschiedene soziale Indikatoren heranzieht:

  • Lebenserwartung (Kindersterblichkeit, Gesundheit),
  • Bildungsstand (Alphabetisierungsrate) und
  • reale Kaufkraft pro Kopf.

1995 wurde der HDI durch den Gender-related Development Index (GDI) erweitert, der die Messung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten innerhalb eines Landes und zwischen Ländern erlaubt. 1997 kam der Human Poverty Index (HPI) hinzu, der die Verbreitung bzw. Verteilung von Armut in einem Gemeinwesen erfasst und folgende Indikatoren heranzieht:

  • Anteil der Menschen mit einer Lebenserwartung unter 40 Jahren,
  • Rate der erwachsenen Analphabeten,
  • ökonomische Grundversorgung (Zugang zu Gesundheitsdiensten und sauberem Wasser) und
  • der prozentuale Anteil unterernährter Kinder unter 5 Jahren.

Im Unterschied zum HDI, der die Gesamtentwicklung eines Landes misst, zielt der HPI darauf, Auskunft über den Anteil der Menschen zu geben, die vom Nutzen des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts ausgeschlossen sind. So kann z. B. in zwei Staaten, die einen vergleichbaren gesellschaftlichen Entwicklungsstand (HDI) aufweisen, der Nutzen dieser Entwicklung sehr unterschiedlich bzw. ungleichmäßig in der Gesellschaft verteilt sein.
Der Vorteil dieser Methoden liegt darin, dass Defizite und Fortschritte sozialer Ungleichheit erfasst werden können, die nicht in Geldeinheiten abzubilden sind. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass sich die verschiedenen Dimensionen gegenseitig überlappen und durch Unschärfe an Aussagekraft verlieren.

Armutsdefinition der deutschen Bundesregierung: Kombination aus Ressourcen- und Lebenslageansatz

In der Bundesrepublik Deutschland kombiniert die Armutsforschung und -bekämpfung der Bundesregierung den Ressourcen- und Lebenslageansatz . Für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sind Menschen dann arm,

„wenn sie nicht über das Minimum an monetärem oder nichtmonetärem Einkommen verfügen, welches zur Deckung ihres Nahrungsmittelbedarfs und zur Befriedigung der übrigen Grundbedürfnisse erforderlich ist. Soziale, ökonomische, kulturelle, politische und ökologische Bestimungsgründe sind dabei untrennbar miteinander verbunden.“

Armut wird somit als vielschichtiges und mehrdimensionales Phänomen bestimmt, das zahlreiche sozioökonomische Indikatoren einschließt, wie:

  • geringes Einkommen,
  • Nahrungsmangel,
  • hohe Kindersterblichkeit,
  • geringe Lebenserwartung,
  • geringe Bildungschancen,
  • schlechtes Trinkwasser,
  • keine Gesundheitsversorgung,
  • unzumutbare Wohnverhältnisse.

Es schließt aber auch immaterielle Defizite ein, wie:

  • fehlende Möglichkeiten für eine selbst verantwortliche Lebensgestaltung sowie
  • mangelnde politische und gesellschaftliche Teilhabe.

In den Studien des BMZ werden monetäre und soziale Indikatoren kombiniert, häufig ergänzt durch Erhebungen der Sichtweise der Bevölkerung bzw. der Betroffenen.

Es wird deutlich, wie schwierig es ist, ein überzeugendes Konzept mit geeigneten Indikatoren zu finden, das die Vielschichtigkeit menschlicher Armut erfassen kann. Eine genaue Analyse ist jedoch Grundvoraussetzung für die zielgerichtete Bekämpfung von Armut.

Teufelskreise der Armut

Teufelskreise der Armut

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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