- Lexikon
- Kunst
- 7 Produkt-Design
- 7.2 Designgeschichtliche Entwicklung
- 7.2.1 Entstehung und Entwicklung des Industriedesigns (1780-1894)
- Michael Thonet – Vom Handwerksbetrieb zur Industrieproduktion
Bevor er sich in Wien 1849 mit seinen Söhnen selbstständig machte, arbeitete er zunächst beim Möbelfabrikanten CLEMENS LIST und später bei CARL LEISTLER.
Hier entstand der Sessel Nr. 1 (Schwarzenberg-Sessel), der sich bereits aus vier Einzelteilen zusammensetzte, die sich wie in einem Baukastensystem mit anderen Teilen kombinieren ließen. Bereits mit diesem Modell legte er den Grundstein für die spätere Modellvielfalt seiner Möbel.
Höhere Produktivität durch das Bugholzverfahren
Weitere Großaufträge erforderten eine höhere Produktivität. Die Verfahrensweise der Herstellung von Einzelteilen, die Nutzung der Dampfmaschine machten es möglich, ohne Stillstand auf Vorrat zu produzieren und im Bedarfsfall schnell auszuliefern. Inzwischen war das Bugholzverfahren patentiert und eine achtstrahlige Sonne wurde in alle Thonet-Möbel eingeprägt.
Die steigende Produktion und der damit verbundene Holzbedarf führten zum Aufbau von zwei Fabriken in Mähren (1856, Koritschan 1861, Bystritz). Während die Einzelteile dort produziert wurden, erfolgte die Montage weiter in Wien. Aus der handwerklichen Manufaktur war eine industrielle Serienproduktion geworden.
1850 präsentierte THONET mit dem Modell Sessel Nr. 4 auf einer Ausstellung des Niederösterreichischen Gewerbevereins einen leichten kostengünstigen Stuhl aus schichtverleimten Lamellen (später wird das Modell auch aus massiv gebogenen Holzstäben gefertigt).
Die ersten Großaufträge kommen von Kaffeehausbesitzern aus Wien und aus Budapest. Die leichten eleganten Stühle scheinen sehr viel besser in die lockere Kaffeehausatmosphäre zu passen, als die behäbige Biedermeiermöblierung.
Trotz erster Aufmerksamkeitserfolge (Bronzemedaille) konnten die Möbel auf der Weltausstellung in London 1851, hier schon in einer vollständigen Sitzgarnitur (Canapé, Stühle, Armsessel, Tisch, Etagère), das Publikum und die Jury noch nicht überzeugen. Im Zeitalter der überladenen Dekorationslust erschienen die Thonet-Möbel gar zu abgespeckt und provokant.
1853 übergibt MICHAEL THONET die Firma an seine Söhne, behält aber die oberste Geschäftsleitung. Die Firma wird ab jetzt unter dem Namen „Gebrüder THONET“ geführt.
In Koritschan begann 1859 auch die Produktion des später berühmt gewordenen Sessels Nr. 14. Bis 1930 wurde dieses Modell bereits über 50 Millionen Mal verkauft.
1862 beschäftigen die Gebrüder THONET in den beiden Fabriken ca. 800 Arbeiter, die jährlich etwa 70 000 Möbelstücke herstellen.
Das ausgewogene Preis-Leistungs-Verhältnis, die universelle Verwendbarkeit, Leichtigkeit und hohe Belastbarkeit, geringe Transportkosten, einfache Selbstmontage und schnelle Lieferung machten die Thonet-Möbel zu einem weltweit begehrten Produkt.
1871 stirbt der Firmengründer MICHAEL THONET in Wien. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sich die Firma um zwei Fabriken und Verkaufsniederlassungen in vielen Großstädten Europas und in den USA erweitert.
Mit den Sesseln Nr. 54 und 56 kann die Produktion 1885 noch einmal verbessert werden. Die vorher aus einem zwei Meter langen Rundholz bestehende Rückenlehne wird geteilt und in der Mitte zusammengesetzt. Damit wurde außer Material und Kraft außerdem Zeit und Geld gespart. Der Sessel Nr. 56 wird der billigste Stuhl des gesamten Möbelprogramms.
Um die Jahrhundertwende spiegeln sich auch die Kunststile in den Entwürfen der Gebrüder THONET wieder. So erhält der Sessel Nr. 221 eine Rückenlehne mit „Palmettenmotiv“, welches deutlich Anlehnungen an den Jugendstil zeigt. Der von OTTO WAGNER für die Wiener Postsparkasse entworfene Armlehnensessel wurde im Bugholzverfahren ausgeführt, entsprach aber dem sachlich-konstruktiven Stil WAGNERs. Ebenso modern und neuartig wirkt der dreibeinige Sessel Nr. 81.
In dieser Zeit beginnt die Arbeit der dritten Generation der Thonet-Familie. Bis 1914 erreicht die Produktion mit etwa zwei Millionen Produkten im Jahr ihren Höchststand.
Verschiedene Umstände führten dazu, dass sich 1923 alle Firmen der Gebrüder THONET mit dem Konkurrenzunternehmen MUNDUS zum größten Möbelproduzenten der Welt zusammenschlossen. Nach und nach ziehen sich die Familienmitglieder außer RICHARD THONET aus dem Unternehmen zurück.
Auf der Werkbundausstellung „Die Wohnung“ 1927 sind wieder Bugholzstühle und die von THONET-MUNDUS produzierten Stahlrohr-Freischwinger als zukunftsweisende Möbel präsent. In der Verbindung mit dem neu gegründeten Bauhaus engagierte sich die Firma für die Entwicklung von neuen Sitzmöbeln und wurde der führende Stahlrohrmöbel-Hersteller.
Während der 1930er-Jahre zwangen die wachsende Kriegsbedrohung und der Antisemitismus den jüdischen Generaldirektor LEOPOLD PILZER der Firma zur Emigration. Verhandlungen führten unter anderem dazu, dass VICTOR und RICHARD THONET die Rechte erhalten Thonet-Möbel in Deutschland und Österreich zu produzieren und zu vertreiben. Während des Zweiten Weltkrieges werden vor allem Krankenstühle (Bewegungsstuhl „Siesta“) produziert.
Die Bedingungen nach dem Krieg waren denkbar ungünstig; die Firmen in Osteuropa wurden enteignet, die Fabrik in Frankenberg zerstört, das Vermögen vernichtet. Behelfsmäßig begann die Produktion eines einfachen Küchenstuhls mit zwanzig Mitarbeitern. Nach und nach erholte sich die Firma und 1953 gewann der sogenannte Wannenstuhl (Modell Nr. 662) eine Silbermedaille auf der Triennale in Mailand. Die Firma nahm 1960 den berühmten Sessel Nr. 14 wieder ins Programm auf.
In Frankenberg entstand 1970 ein Zweitwerk, welches außer der Produktion auch die Polsterei und den Versand übernahm. In der weiteren Entwicklung erweiterte die Firma „Gebrüder Thonet“ ihr Möbelprogramm um vielseitige innovative Produkte, die stets die Qualität der klassischen Bugholzmöbel anstrebten und bekamen dafür zahlreiche internationale Designpreise.
Ihre Bedeutung als Meilenstein der Designgeschichte wurde 1989 in der bisher größten Thonet-Ausstellung „Sitzgelegenheiten“ oder „Das Prinzip Thonet“ im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg gewürdigt.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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