STEPHEN JAY GOULD wurde am 10. September 1941 in New York City geboren und ist einer der bekanntesten Evolutionsforscher des 20. Jahrhunderts. Nach einem Geologie- und Paläontologie-Studium am Antioch College und an der Columbia Universität in New York wurde GOULD 1967 Assistant-Professor und seit 1973 Professor für Geologie an der Harvard University. Dort hielt er bis zu seinem Lebensende Vorlesungen in Geologie, Biologie und Geschichte der Naturwissenschaften.
Sein Spezialgebiet war die evolutionäre Erforschung westindischer Landschnecken. Die von ihm durchgeführten Feldforschungen zur Evolution der Landschlangen der Bermudas (Gattung Poecilozonites) führten ihn schließlich zu der Erkenntnis, dass im Evolutionsverlauf lange Perioden geringer Veränderungen mit relativ kurzen Perioden raschen evolutiven Wandels abwechseln („Evolution in Schüben mit stammesgeschichtlichen Stillständen“). Die Beschleunigung der Evolution soll dabei durch Klimawechsel und Veränderungen der Erdoberfläche verursacht worden sein. Zusammen mit NILES ELDREDGE (geb.1943), der ähnliche Erkenntnisse an der devonischen Trilobitengattung Phacops gewonnen hatte, entwickelte er den theoretischen Ansatz des Punktualismus („puctuated equilibrium“).
Die beiden Wissenschaftler stellten diese Evolutionstheorie der Theorie des allmählichen Übergangs von einer Art in eine andere („Gradualismus“) gegenüber. Mit ihren Ansichten regten ELDREDGE und GOULD eine große Zahl von paläontologischen Untersuchungen zum Ablauf der Evolution und zur Artbildung an. 1993 wiesen GOULD und ELDREDGE darauf hin, dass ein wichtiges Ergebnis ihrer Punktualismus-Theorie die Erkenntnis ist, dass das Gleichbleiben bestimmter morphologischer Formen in der Evolution des Lebens stets eine große Rolle gespielt hat und immer noch spielt, und dass die Makroevolution (Stammesentwicklung oberhalb des Artniveaus, d. h. Entstehung neuer Baupläne, wie z. B. der Übergang Fisch/Amphibium) „… auf dem besonderen evolutionären Erfolg einiger bestimmter Arten und ihrer Abkömmlinge beruht.“
GOULD trat der Ansicht von DAWKINs entgegen, dass das Einheitliche der Evolution in den Genen zu suchen sei. Ebenso widersprach er der These, dass die Selektion zwischen den Individuen einer Population der einzige Evolutionsfaktor für makroevolutionäre Veränderungen darstelle.
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt in der Evolutionstheorie GOULDs ist, dass es keinen dem Evolutionsprozess innewohnenden unvermeidlichen Drang nach Höherem gibt. GOULD betonte, dass man im Evolutionsprozess einen statistischen Vorgang sehen müsse.
GOULDs großes Lebenswerk „The Structure of Evolutionary Theory“ wurde ein paar Monate vor seinem Tod veröffentlicht. Er arbeitete daran mehr als 20 Jahre und glaubte aufgrund seiner 1982 diagnostizierten Krebserkrankung lange Zeit nicht an dessen Vollendung. Es umfasst mehr als 1 400 Seiten und verfolgt die verschiedenen Spuren der Evolutionsidee bis ins Altertum. GOULD betonte immer wieder, dass die natürliche Selektion nicht der einzige Evolutionsfaktor wäre und dass katastrophale Ereignisse – wie etwa der Einschlag eines Meteoriten auf der Erde – für den Ablauf der Evolution ganz entscheidend waren.
Sein Gesamtwerk umfasst mehr als 250 Zeitschriftenartikel und Buchbeiträge, zwei fachliche Spezialwerke sowie zahlreiche populärwissenschaftliche Sachbücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden (e.g. The Pandas Thumb, The Flamingos Smile, This View of Life).
Im Laufe seines Lebens wurde der berühmte Havard-Professor über 40 Mal mit akademischen Titeln ausgezeichnet. Er gehörte zu den populärsten und einflussreichsten Akademikern Amerikas. Nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 zitierten amerikanische Tageszeitungen einen von ihm verfassten Essay zum Thema „Gut und Böse“. Er veröffentlichte auch Aufsätze zu anderen Themen, wie z. B. über seinen Lieblingssport Baseball. Er hatte sogar einen Auftritt in der Kult-Comic-Serie „The Simpsons“. Während der letzten zwei Jahrzehnte war er einer der konsequentesten Vorkämpfer für die Verbreitung der auf DARWIN und WALLACE zurückgehenden modernen Evolutionstheorie. Er kämpfte dafür, dass die Lehre der Evolutionstheorie an Amerikas Schulen nicht von ideologisch-religiösen Theorien verdrängt oder eingeschränkt würde.
Einer seiner Kollegen äußerte sich zu GOULDs außergewöhnlicher Produktivität einmal wie folgt: „Ich kenne keinen anderen Menschen, lebend oder tot, der das geschafft hat.“
Im Alter von 61 Jahren erlag GOULD seinem langjährigen Krebsleiden.
Stand: 2010
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